Es war Anfang August 2019, …
…kurz vor 11:30 Uhr. Es klingelte bei uns an der Tür. Ich trank nach einem 21 km Lauf gerade noch einen Eiweiß-Shake. Meine Tochter unterbrach kurz ihr Frühstück und ging zur Tür. Es war Kerstin. Sie traf etwas früher als verabredet ein. Meine Tochter ließ Kerstin herein und führte sie in unser Wohnzimmer. Ich saß mit dem Shake in der Hand in meinem Lesesessel in einer der Ecken des Wohnzimmers, knapp 2 Meter von Kerstin entfernt. „Hallo Kerstin“ rief ich ihr zu, „warte bitte noch einen Augenblick, ich bin gleich so weit“ fügte ich hinzu. „Oh, hallo Peter, ich habe dich gar nicht gesehen“ antwortete Kerstin. Ich kann mein Gefühl von damals nicht mehr genau wiedergeben. Ich weiß nur, ich habe mich innerlich geschämt.
Kerstin trainiert in „meiner Mittwochsgruppe“ auch schon seit Jahren, wie Sabine. Ich hatte gerade das Coaching mit Ben beendet, da fragte mich Kerstin eines Abends nach dem Training, ob ich sie nicht auch coachen könnte. Sie wolle am 13.10.2019 den Köln-Marathon laufen. Ich wollte nach der Testphase, die ich Ende Juni beendete, keine Coachings mehr gratis anbieten. Ich versuchte, es Kerstin, so gut ich konnte, zu erklären: „ich schreibe kurzfristig auf meiner Homepage einen Beitrag über meine Coaching-Angebote. Ich mache es nicht mehr gratis. Ich weiß nicht, ob dir das dann noch Wert ist. Du kennst mich schon lange, und auch die Art des Trainings, die ich propagiere, kennst Du gut“. Es fühlte (und wahrscheinlich hörte) sich wie eine Ausrede an. Kerstin fragte mich nach dem Preis. Diesen wusste ich zu dem Zeitpunkt selbst noch nicht und versprach ihr, mir bis zum nächsten Training Gedanken zu machen. Eine Woche später bot ich Kerstin einen Deal an: „ich coache dich und du gibst mir am Ende das was es dir Wert war, in Ordnung?“. Es war für Kerstin in Ordnung.
Kerstin ist schon einige Marathons gelaufen,…
…das wusste ich. Ich wusste auch, dass sie eher zu den langsameren Läuferinnen/Läufern in unserer sogenannten Leistungsgruppe gehört. Ihre Augen sind nicht so gut. Es war klar für mich, dass sie dadurch nicht ganz so schnell rennen kann. Was ich aber nicht wusste, und deswegen schämte ich mich vor unserem ersten gemeinsamen Training, war die Tatsache, dass Kerstin fast blind ist. Mir wurde an jenem Tag bewusst wie wenig man manchmal über Menschen, mit denen man regelmäßig zusammentrainiert (oder anderweitig zu tun hat), weiß. Vielleicht sollte ich statt „man“ „ich“ schreiben?
„Wie soll ich das machen? Kann ich das? Schafft sie das überhaupt?“ schoss mir damals durch den Kopf. Ich musste es wenigstens versuchen. Nach unserem ersten gemeinsamen Training notierte ich mir:
„Es war für Kerstin schon ziemlich grenzwertig- Insbesondere die Burpees fielen ihr zunehmend immer schwerer, bis sie bei den letzten nicht einmal mehr problemlos aufstehen, geschweige denn springen konnte.“
Es gibt immer eine Alternative
Ich durfte mir Alternativen zu meinen Lieblingsübungen und Workouts überlegen. Das tat ich, und wir trafen uns einmal wöchentlich. Daneben schrieb ich für Kerstin einen Trainingsplan. Ich war beeindruckt von ihrer Disziplin, sowohl in Bezug auf das Training als auch in Bezug auf die Ernährungstipps, die ich ihr zwischendurch immer Mal wieder gab. Diese durfte ich etwas erweitern, nachdem ich erfahren hatte, dass Kerstin auch an Hashimoto leidet. „Na super, auch das noch“, dachte ich. „Das mit dem Wettkampfgewicht wird diesmal nicht so einfach“.
Ich hatte stets den Eindruck, dass Kerstin, für die ich schnell einen neuen Namen/ ein Synonym in meinem Kopf kreierte „EINE STARKE FRAU“, alles, was ich ihr erzählte, regelrecht aufsog. Sie wollte alles, so gut es ging, umsetzen. Sie ließ sich nicht entmutigen als sie wegen einer Erkältung einige Trainingseinheiten ausfallen lassen musste. Sie verzagte nicht, während sie aufgrund einiger Beweglichkeitsdefizite einige Übungen nicht bzw. nicht „perfekt“ ausführen konnte. Sie trainierte trotz einer Rippenprellung, die sie sich bei einem Sturz zuzog, weiter, wenn auch mit etwas angezogener Handbremse. Am 21.09.2019 notierte ich mir:
„Das war heute für die 8 Woche genau richtig. Kerstin schwitzte zwar ordentlich, meinte aber abschließend, dass sie noch 3 weitere Sätze hätte machen können“
Eine starke Frau eben.
Nach 11 Wochen gemeinsamer Arbeit…
…wog Kerstin 6 kg weniger. Viel Gewichtsverlust war nicht unbedingt unser erklärtes Ziel (und aufgrund ihrer Hashimoto-Erkrankung auch nicht zu erwarten). Ein paar Pfunde, je nach Ausgangslage, purzeln bei einem solchen Training fast schon nebenbei. 6 kg fand ich dann doch recht viel. Was mich aber besonders freute, was mir in meinen bisherigen Coaching noch nicht gelang, war Kerstins Veränderung ihrer Körperzusammensetzung. Sie baute trotz des Gewichtsverlustes ca. 2,5 kg Muskelmasse auf. Das bedeutete gleichzeitig einen Verlust von 8,5 kg Fett. Wow. Diese 8,5 kg Fettabbau innerhalb von 2,5 Monaten sind in Anbetracht ihrer Handicaps, insb. Hashimoto, eine Wahnsinnsleistung. Ich weiß nicht, ob dir das bekannt ist, dass Gewichtsverlust bei einer Unterfunktion der Schilddrüse nicht ganz so leicht ist.
Kerstin finishte am 13.10.2019 den Köln-Marathon, wenn auch langsamer als sie selbst wollte und auch langsamer als ich ihr zugetraut hatte. Unzufrieden war sie dennoch nicht, und ich war es auch nicht. So ambitioniert wie sie ist, so ging sie auch die ersten Kilometer viel zu schnell an und musste dem hohen Anfangstempo Tribut zollen. Auch erfahrene Marathon-Läufer(innen) sind vor diesem „Fehler“ nicht gefeit.
Ach so…was ich am Ende unseres gemeinsamen Trainings von Kerstin bekam, bleibt unser Geheimnis 😎 .
Kerstin: links am 27.07.2019 (62 kg) und rechts am 05.10.2019 (56 kg)
EINE STARKE FRAU!
Kerstin, die sich dankenswerterweise mit der Veröffentlichung dieses Beitrags einverstanden erklärt hat, und ich, hoffen, dir mit dieser kleinen Erfolgsstory etwas Mut zu machen. Es ist definitiv mehr möglich als du glaubst; auch mit Handicaps. Vorausgesetzt, du bist motiviert und bereit, deine Komfortzone zu verlassen 💡 .
Dein Peter Buchmann
Titelfoto: Pixabay.com © „Beratung, Training“, Bildnachweis nicht erforderlich; Bild im Text: Buchmann_privat© „PT_Kerstin“